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Politik&Gesellschaft

Kümmert sich die Behindertenhilfe um die Falschen?

Fachtagung in Paderborn

Die Entdeckung des Sozialraums als Ressource bietet Chancen, hat aber auch Grenzen

Paderborn(cpd). Kümmert sich die Behindertenhilfe um die Falschen? Ja, sagt der evangelische Pfarrer und Kabarettist Rainer Schmidt. Denn eigentlich seien es eher Menschen ohne Behinderung, die Hilfe auf dem Weg zu einer inklusiven Gesellschaft benötigen. Schmidt, selbst körperbehindert, sieht die Zukunft der Behindertenhilfe darin, die unterschiedlichen Lebenswelten von Menschen mit und ohne Behinderung zusammenzubringen. “Wir müssen aufeinandertreffen, wenn wir uns an diese Verschiedenartigkeit gewöhnen wollen”, erklärte Schmidt vor rund 150 Teilnehmern einer Fachtagung des Diözesan-Caritasverbandes Paderborn. Die von der Journalistin Brigitte Büscher moderierte Tagung gehörte zu den Veranstaltungen im Rahmen des 100-jährigen Jubiläums des Verbandes. Mitveranstalter war die Diözesan-Arbeitsgemeinschaft Behindertenhilfe und Psychiatrie.

Für Professor Dr. Frank Früchtel von der Fachhochschule Potsdam beginnt Inklusion mit dem Verlassen des Schubkästchen- und Versorgungsdenkens, sprich: mit der Wiederentdeckung des Sozialraums als Ressource. In Praxisbeispielen belegte er, wie natürliche Netzwerke von Menschen mit Behinderung entdeckt und positiv nutzbar gemacht werden können. “Professionelle kennen oft nicht den unsichtbaren Unterstützerkreis im Hintergrund.” Früchtel warb für eine “fallunspezifische Arbeit”, bei der nicht plan- und vorhersehbare Beziehungen im Umfeld des Betroffenen im Zentrum stehen. Es gelte “von den Versorgungsautobahnen abzubiegen auf die Landstraßen, wo man so langsam fahren muss, dass man die Leute noch grüßen kann”.

Auch Dr. Franz Fink, Referatsleiter beim Deutschen Caritasverband, sieht die Zukunft der Behindertenhilfe vor dem Hintergrund der angestrebten inklusiven Gesellschaft. “Wir müssen die Betroffenen in die Lage versetzen, ihre Interessen als Bürger selbst durchzusetzen.” Der Paderborner Diözesan-Caritasdirektor Josef Lüttig plädierte dafür, dass Behindertenhilfe nicht nur darauf setzen dürfe, die eigene Arbeit in den Einrichtungen gut zu gestalten, sondern die “Menschen auf ihrem Weg in die Gesellschaft zu unterstützen”. Dennoch: Inklusion strebt zwar für Menschen mit Behinderungen die gewünschte “Normalität als Bürger” an, doch wird es für viele Betroffene ohne eine klassische Förderung und Versorgung durch Einrichtungen nicht gehen, wie Angehörige schwerstmehrfachbehinderter Kinder bei der Tagung betonten. Wie weit weg die geforderte Inklusion auch im Bereich der Erwerbsarbeit ist, verdeutlichten Mitarbeiter von Werkstätten der verbandlichen Caritas. Den meisten ist klar, dass sie mit ihrer Behinderung kaum eine Chance auf dem ersten Arbeitsmarkt haben. Dennoch: “Wir sind es leid, immer nur mit Kosten in Verbindung gebracht zu werden”, so Yvonne Mitschke aus Büren.

Das Leitbild einer inklusiven Gesellschaft ist historisch gesehen gerade in Deutschland ein Quantensprung. Der Autor und Historiker Götz Aly erinnerte bei der Tagung daran, auf welch brüchigem Boden die Akzeptanz von Menschen mit Behinderung hierzulande steht. Die Ermordung von geistig Behinderten vor 75 Jahren sei “nicht allein eine Sache der Nationalsozialisten gewesen”. Der geistige Boden für den Massenmord war, so Aly, in den sich als progressiv und liberal verstehenden Kreisen der Weimarer Republik angelegt. Die Nazis hätten an Umfragen anknüpfen können, nach denen Angehörige von Menschen mit Behinderung einen “Gnadentod” theoretisch befürworteten, praktisch aber Skrupel hatten. So waren denn auch die meisten Angehörigen trotz Warnungen des Pflegepersonals nicht bereit, ihre Kranken rechtzeitig aus den Anstalten zu holen, um sie vor dem Abtransport in die Tötungseinrichtungen zu retten. Die Nazis gaben mit ihrer Aktion den Menschen das Gefühl, an einem “offenen Geheimnis” teilzuhaben, bei dem man nicht genau hinschauen müsse.

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